Das Tor zu den Bergen
Ich habe mein Ziel erreicht. Endlich befinde ich mich am Rand der argentinischen Anden, wo ich so lange schon hinwollte. Es gibt viel, was ich dort unternehmen möchte, doch erstmal brauche ich ein paar Tage, um mich von den Strapazen des letzten Reiseabschnittes zu erholen. Seit Asuncion habe ich so viel erlebt und gesehen, dass ich etwas Verarbeitungszeit gut gebrauchen kann. Es liegen grob 1300km hinter mir, ich habe es durch den kompletten Chaco per Anhalter geschafft, in einer Mennonitenkolonien gewohnt, an Tankstellen geschlafen und Bolivien einen außerplanmäßigen Besuch abgestattet.
Nun freue ich mich erstmal für eine gewisse Zeit das gleiche Bett zu haben, kochen zu können und auf der hosteleigenen Gitarre ein paar Lieder zu üben. Runter kommen ist angesagt.
San Salvador de Jujuy ist eine nette Stadt mittlerer Größe und Haupttstadt der gleichnamigen Provinz. Eingebettet zwischen sanften Hügeln und umflossen von zwei Strömen, macht Jujuy auf mich von vornherein einen sehr ruhigen und entspannten Eindruck. Was die Bewohner angeht, habe ich mal wieder das Gefühl, dass sich die Menschen eines Ortes dem Charakter ihrer Umwelt anpassen. Bereits bei meiner ersten Runde durch die Stadt, fällt mir auf, dass die Menschen hier grundsätzlich einen langsameren Rhythmus an den Tag legen. Das gilt für die Schrittgeschwindigkeit der Leute, die Schlangen an den Geldautomaten und den Verkehr, der sich gemächlich durch die von Fußgängern dominierten Straßen des Zentrums schiebt. Für ein kleines Schwätzchen scheint hier immer Zeit zu sein und viele Verkäufer stehen vor ihren Geschäften und Boutiquen, während sie geduldig auf Kundschaft warten.
Das Gesamtbild dieser Stadt vermittelt mir den Eindruck, dass verfügbare Lebenszeit hier in einer völlig anderen Relation zu den eigenen Ansprüchen steht, als es bei uns der Fall ist. Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber es scheint mir, als wären hoch gesteckte Ziele in Jujuy eher eine Seltenheit. Damit möchte ich keineswegs and den Fähigkeiten der Leute zweifeln, sondern auf eine andere Beleuchtung folgender Frage hinweisen.
Wie möchte ich mein Leben verbringen?
Was möchte ich in meinem Leben erreichen? Auf welche Erfahrungen möchte ich auf keinen Fall verzichten? Will ich mein Leben in den Dienst anderer stellen, etwas erschaffen oder unternehmerisch erfolgreich sein? Unser Leben sollte idealerweise wie eine Treppe aussehen, die wir Stufe für Stufe heraufsteigen, indem wir auf unseren bisherigen Erungenschaften aufbauen. Je höher wir kommen, desto besser wird auch die Aussicht.
Auf Jujuy’s Einwohner lässt sich dieses Model ebenfalls übertragen. Allerdings scheinen diese sich im übertragenen Sinne bereits im ersten oder zweiten Stock dauerhaft niederzulassen. Das bedeutet, dass sie sich schon damit zufrieden geben, wenn es ihnen nach ihren Maßstäben gut geht. Kein Komperativ und kein Superlativ. Gut ist genug. Wenn die Leute einen gewissen Lebensstandard haben, dann ruhen sie sich darauf aus. Anstatt ihre Energie anschließend in Weiterentwicklungsmaßnahmen zu stecken, genießen sie damit einfach ihre Zeit auf Erden.
Ich denke das ist eine Lebenseinstellung, die wir optimierungsgetriebenen Europäer nur schwer nachvollziehen können. Auf dem Prinzip des Fortschrittes beruht unsere gesamte Denkweise; und das nicht unbedingt zu Unrecht. Trotzdem können wir von Jujuys Einwohnern etwas lernen. Wer nämlich durchgehend nach etwas Besserem strebt, wird das Beste nie erreichen können. Derjenige wird seine Treppe Stufe um Stufe gen Himmel bauen, aber sich nie die Zeit nehmen die Aussicht zu genießen. Wer sich in seinem Lebensbauwerk nie für eine Weile in einem Stock niederlässt, wird aus seinem gemütlichen Wohnzimmersessel auch nie aus dem Fenster schauen können, um zu betrachten, was er schon alles erreicht hat. Was wir brauchen ist eine gesunde Balance zwischen Fortschritt und Stagnation. Man muss es sich in seinem Heim auch mal gemütlich machen, bevor man wieder in eine bessere Wohnung zieht. Sich auch mal mit dem zufrieden geben, was man hat.
Wenn man hier den Menschen ins Gesicht sieht, spiegelt sich darin allerdings nicht nur Gelassenheit wieder, sondern man kann daraus auch deutlich die Nähe zu Bolivien ablesen. Bei vielen zeichnen sich die markanten Gesichtszüge der Andenbewohner ab und verweisen auf ihren ethnische Ursprung. Im stark durch europäische Einwanderung geprägten Argentinien ist das keine Selbstverständlichkeit und nur in bestimmten Regionen der Fall. Auch kulturell sind die Einwohner Jujuys den Bolivianern sehr ähnlich. Von ihren bunten Flaggen bis zur Verehrung von Pachamama haben sich noch viele gemeinsame prähispanische Bräuche und Kulturgüter erhalten. Darauf werden wir allerdings erst in den nächsten Tagen intensiver eingehen, denn in einer großen Stadt wie Jujuy ist nichtsdestotrotz wenig Raum für die Entfaltung von Naturverbundenheit und alten Traditionen.
Da mir seit langer Zeit in meinem Hostel wieder ein Computer zur Verfügung steht, möchte ich die Zeit auch ein wenig nutzen, um für meinen Blog zu schreiben. Als ich mich an die Arbeit mache, muss ich allerdings feststellen, dass neunzig Prozent meiner hochgeladenen Bilder eine fehlerhafte Verknüpfung aufweisen und praktisch nicht mehr existieren. Ich kann mir bis heute nicht erklären, worauf das zurückzuführen ist. Jedenfalls bin ich dann Stundenlang damit beschäftigt die entsprechenden Bilder zu finden, hochzuladen und wieder in den Text einzupflegen. Dass ich lieber Neues geschrieben als altes wiederholt hätte, versteht sich vermutlich von selbst. Auch wenn sie demotivierend sind, gehören Rückschläge zum Leben dazu…
Gegen schlechte Laune hilft bekanntlich gutes Essen, also gehe ich täglich in einen, der nahegelegenen Supermärkte, um mir frisches Gemüse und verschiedene Zutaten kaufen zu können. Dem muss ich jedoch hinzufügen, dass ich jedes Mal ein wenig enttäuscht bin, als ich vor dem Frischeregal nach meiner Beute Ausschau halte. Wer hätte denn auch gedacht, dass mich die Supermärkte Paraguays so verwöhnen würden? Dort waren die Waren insgesamt nicht nur billiger, sondern auch von besserer Qualität. Natürlich muss man dazu sagen, dass ich weder professioneller Tester bin, noch jeden Supermarkt der Region besucht habe, aber an meinem Eindruck halte ich dennoch fest. Paraguay hat einen besseren Lebensmittelhandel als Argentinien.
Nichtsdestotrotz finde ich jedes Mal etwas annehmbares Grünzeug und lasse mein Improvisationstalent den Rest machen. In der Regel sprechen wir hier von verschiedenen Paprikas, Zwiebeln, Auberginen und Tomaten. Bei folgendem Beispiel gemischt mit Spinatgnocchis, wobei ich zugeben muss, dass ich im Nachhinein lieber die normalen genommen hätte. So lernt man immer dazu und gut war es trotzdem.
Neben dem Kochen verbringe ich in Jujuy viel Zeit mit der Gitarre. Neben Gary Jules‘ Mad World habe ich Milky Chance’s Stolen Dance schon halbwegs drauf und genieße die ersten Fortschritte. Lediglich was meine Fingerspitzen angeht, kann ich nicht von Genuss sprechen, aber davon lasse ich mich nicht stoppen. Insgesamt scheine ich mit der Gitarre auch von außen ein recht harmonisches Bild abzugeben. Ich werde eines Abends im Hostel nämlich von einem deutschen Pärchen gefragt, ob ich ihnen nicht ein paar Dinge beibringen könnte. Eigentlich habe ich selbst keine Ahnung, setze mich aber trotzdem gerne mit Ihnen zusammen. Alles was ich für sie tun kann, ist ihnen weiter zu geben, was man mir erklärt hatte. Zusätzlich zeige ich ihnen ein paar Akkorde, die ich für die einfachsten halte, mit welchen ein paar komplette Lieder spielbar sind. Damit findet man schnell Gefallen am Spielen und alles weitere kommt dann von selbst. Man muss es eigentlich nur wollen.
Neben all dem nutze ich meine ruhigen Tage, um mit meinen Freunden aus Deutschland zu telefonieren. An einem Abend erwische ich fast die gesamte Mannschaft per Videochat, während sie bei Leonard zu Hause am Tisch sitzt. Ich freue mich riesig so viele von ihnen zu sehen und stelle gleichzeitig fest, dass ich nach zwei Monaten trotzdem noch nicht das leiseste Anzeichen von Heimweh habe.
Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – Jujuy keine großen Sehenswürdigkeiten zu bieten hat, kann ich diese Stadt gut leiden. Zudem säumen viele Bäume die Straßen und durch die umliegenden, bewaldeten Hänge hat man nicht das Gefühl sich in einer großen Stadt zu befinden. Außerhalb des Zentrums, sind die Straßen ausgesprochen ruhig und manchmal kommt es mir vor, als würde ich mehr Straßenhunden als Menschen über den Weg laufen. Wenn ich mich aber mal mit jemandem unterhalte, sind die Leute ausgesprochen nett und freundlich; sei es im Supermarkt, beim Imbiss oder im Hostel.
Auch für Straßenkunst ist Jujuy nicht besonders bekannt. Das oben stehende Werk ist allerdings mit Abstand eines der besten Graffitis, die ich in meinem Leben gesehen habe. Es erstreckt sich über zwei, durch eine Straße voneinander getrennten, Häuser und ergibt doch ein zusammenhängendes Bild. Dieses eröffnet sich einem allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man den einen, perfekten Punkt findet, an dem die Perspektive stimmt. Genial.